Wie digital ist die Schweiz? Verpassen wir die Transformation von Wirtschaft, Gesellschaft und Staat?
Zündende Antworten auf brennende Fragen von Roger Eric Gisi, Unternehmer und Gründer Schweizer Experten- und Marktplattformen zu Cloud-Computing, Security, CRM/ERP, Energie und Digitalisierung.
Herr Gisi, wo steht die Schweiz, wo die Schweizer Wirtschaft in punkto Digitalisierung?
Roger Eric Gisi: Eine interessante Frage! Zwei Aspekte dazu. Erstens, man rühmt sich in der Schweiz des hohen Exportanteils, zu dem die ICT-Industrie beiträgt, führt jedoch für diese wichtige Branche (wichtiger als Banken und Versicherungen zusammen) nicht einmal einen Branchenindex beim Bundesamt für Statistik. Gemäss OECD-Index für die Schweiz rutschen wir in vielen verwandten Themen zur Digitalisierung jährlich weiter nach hinten. Da helfen auch die aktuellen Hype- und Hyperaktivitäten gewisser Kreise, wo teils der Bund mitmacht, nicht wirklich. Es nützen auch diese Studien der Leistungsfähigkeit und Wirtschaftskraft der Softwareindustrie in der Schweiz nicht wirklich (leider). Es fehlt an Leadern für den Wandel, der die heutige Technolgie ermöglicht. Und da spreche ich nur von Informatik und noch nicht einmal von der Digitalisierung. Es fehlt eine mangelnde Weitsicht bei politischen Instanzen in allen staatlichen Strukturen und in praktisch allen Sektoren der Wirtschaft. Hätten wir seit ungefähr drei Jahren den Buzz «Digitalisierung» nicht, würde sich niemand um die Potenziale der Informationstechnologie zu Gunsten Wirtschaft, Staat und Privatleben kümmern. So in etwa empfinde ich die Fürsorge für die Zukunftsfähigkeit der Schweiz.
Sie zeichnen ein düsteres Bild. Was genau läuft schief – und besteht noch Hoffnung?
Gisi: Zugegeben, das Erkennen von Transformationen, von echtem Change ist gar nicht so einfach. Blicken wir nochmals auf unser Parlament; ist es denn so vertreten, als würde es die Zukunftsfähigkeit der Schweiz gestalten? Im Gegensatz zu vielem ist die IT mit ihrem gesamten Ökosystem nun wirklich systemrelevant für unsere Volkswirtschaft, für unser Land. Haben Sie das schon von einem Bundesrat gehört? Düster ist, dass wir, aus unserer Geschichte heraus, mit all dem Wachstum und Wohlstand, bereits heute die führende Digital-Nation überhaupt sein müssten. Schön, wenn wir zu nationalen Anlässen ausländische CEO`s von Regierungen sprechen lassen (müssen), wenn unsere Bundesräte in anderen Ländern die elektronische ID und Gesundheitskarten bewundern. Da läuft doch einiges schief! Aber die Schweiz hat in ihrer Zeitgeschichte schon sehr viel Anpassungsfähigkeit bewiesen, teils auch ohne grossen Leidensdruck. Insofern: Doch, es besteht schon Hoffnung!
Aber es gibt doch auch Fortschritte in Sachen Digitalisierung beim Bund, oder täuscht das?
Gisi: Ja, das täuscht. Aktuell laufen ein paar unkoordinierte, unsystematische Projekte mit Hypecharakter. Ich erinnere mich noch daran, dass beispielsweise bereits im 2006 verschiedenste Grundlagendokumente zu eID vorlagen und wir heute, in 2018, immer noch keine Lösung für die gesamte Volkswirtschaft haben. Und, vielleicht als Folge davon, das Parlament teils in komplett falsche Richtungen zielt, diskutiert und verabschiedet. Und das ist nicht Ansichtssache. Es geht um grundsätzliche Hoheitsaufgaben eines Staates, eine Staatsinfrastruktur für eine neue Zeit zu schaffen. Vielfach fehlt das Engagement, die Einsicht und das Antizipieren neuer Themen für unsere herausfordernde Zeit. Da der Bund selber nicht up-to-date ist, halten sich die Verantwortlichen in jeglichen Rollen leider zu stark zurück. Damals (2005) war die kontroverse Diskussion über die Konzeption und Ausgestaltung von eID noch in vollem Gange. Heute sind die konzeptionellen Grundlagen und Irrtümer sowie die Miss- und Erfolgsfaktoren weitgehend bekannt. Dies heisst jedoch nicht, dass die Einführung und möglichst flächendeckende Nutzung von eID bei Online-Interaktionen und Transaktionen inzwischen Allgemeingut wären – im Gegenteil: das Huhn/Ei-Problem (wer bezahlt, wer profitiert) lässt sich privatwirtschaftlich ebenso wenig lösen, wie flächendeckende Anwendungen im Bereich E-Health.
Haben Sie einen Lösungsansatz für eine „digitale Schweiz“?
Gisi: Die ökonomische Wirkung der digitalen Transformation in allen Bereichen ist kumulativ und nicht leicht fassbar. Der Nutzen der ICT hängt direkt von den Voraussetzungen ab: Kompetenz, Bereitschaft und Mittel, aber auch von Rahmenbedingungen und Hemmnissen. Diese können, je nach Politik, System und Umfeld, proaktiver und günstiger gestaltet werden. Zwecks Ausschöpfung der Potenziale ist die ICT mit hoher Priorität in allen Bereichen konsequent zu nutzen: Behörden, Zivilgesellschaft, Bildung, Forschung, Wissenschaft, Gesundheit, Soziales, Energie, Versorgung, Transport, Verkehr, Logistik, Armee, Polizei, Rettung, Privatwirtschaft, Interessenvertretung, internationale und supranationale Organisationen usw. Andere Schlüsseltechnologien hängen direkt mit der ICT und deren Entwicklung zusammen: Bio, Pharma, Life Sciences, Chemie, Elektronik, Instrumente, Energie, Transport, Verkehr, Logistik, Material, Maschinen, Teile, Medizintechnik, Photonik, Robotik, Sensorik usw. – und damit auch mit der Bedeutung des Standorts Schweiz.
Wie sieht nun Ihr Lösungsansatz aus?
Gisi: Der Lösungsansatz ist die Veränderung. Die Digitalisierung beginnt im Kopf! Dass sie sowohl Ängste wie auch Chancen birgt, ist bekannt und mittlerweile in Gesellschaft, Wirtschaft und Politik akzeptiert. Aber das Digitale ist ja seit den 60er Jahren unterwegs, lediglich die Geschwindigkeit und die Globalisierung haben rasant zugenommen. Es wird schon lange an der Integration von digitalen Lösungen gearbeitet; je nach Bedarf, sprich Geschäftsnotwendigkeit.
Es geht darum, wie wir die heutigen technologischen Möglichkeiten der Vernetzung in Nutzen umwandeln, also wie die ICT unsere Geschäftsstrategie, unser Businessmodell und unsere Markt- und Kundenentwicklung unterstützen, resp. verändern kann. Dabei muss der Kundennutzen und nicht die Technologie im Vordergrund stehen. Das erhöht wiederum die Komplexität und fordert das Management enorm. Dazu darf ich sicherlich Prof. Malik zitieren, der seit vielen Jahren das Thema fundiert darlegt wie es wohl wenige können: „Die Digitalisierung erfordert ihre eigenen Managementsysteme und -prozesse, die ebenso wie sie selbst mit dynamischer Komplexität umgehen können, mit Selbstorganisation und Selbstregulierung, mit den Prinzipien der Evolution, mit Ungewissheit, Dynamik, Change und Transformation“. Und weiter: „Funktionell sind diese Managementsysteme vergleichbar mit Operating Systems von Computern oder Nervensystemen von Organismen. So wie das richtige Funktionieren eines Computers erst durch das richtige Betriebssystem möglich ist, das Funktionieren einer Zelle durch die DNA und das Funktionieren eines Organismus durch sein Nervensystem, so wird das Funktionieren von Organisationen erst durch das richtige Managementsystem möglich. Richtiges, komplexitätstaugliches, systemkybernetisches Management verstehe ich daher auch als das soziale und evolutionsfähige „Operating System“ für Organisationen und Projekte jeder Art und Grösse“.
Wir brauchen in allen Bereichen, auf allen Stufen mehr Menschen und Kompetenzen, die erst einmal diese Herausforderungen grundsätzlicher Art verstehen. Vernetztes, offenes, kollaboratives und interdisziplinäres Denken ist gefordert. Wir müssen mit neuem Management die Prozesse aus der Perspektive Kundennutzen angehen; dazu gehören auch wir, die Bürger unseres Staates. Wir sind die zahlenden Kunden unseres Staates. Bringen Sie denn heute noch handschriftlich ausgefüllte Briefpostkarten mit Ihrem Zählerstand auf die Post? Als kompetente Bürger im 21. Jahrhundert wollen wir nicht zwischen den Instanzen unseres föderalen Systems unterscheiden, sondern ein breites, durchgehend realisiertes Digital Government nutzen und davon profitieren können.
Wie kann ein durchgehendes Digital Government realisiert werden?
Gisi: Es braucht eine Gesamtübersicht, einen strukturierten Weit- und Durchblick, eine Art Roadmap mit einer klaren Gesamtstrategie mit den Schwerpunkthemen Staat, Wissenschaft, Technologie, Wirtschaft und Gesellschaft. Für eine fundierte Transformation ist nach der Wirkung zu priorisieren und vorzugehen. Darin haben wiederum die Themen einen hohen Stellenwert, die zum einen langfristig ausgelegt sind und trotzdem schnell Wirkung auf allen Stufen unserer Volkswirtschaft zeigen. Ich denke da an neues Arbeiten, wo alle ihre Arbeitsweisen auf die digitalen Innovationsnetzwerke umstellen müssen, an die Bildung und Ausbildung, wo die Integration digital in die Berufssysteme dringender denn je angegangen werden muss, an die Gesundheits-Versorgung und die Mobilität. Dass es dazu die Infrastrukten von Telefonie, Energie, Internet und Breitband braucht, muss ebenfalls noch mehr sensibilisiert und umgesetzt werden. Vieles ist in der Schweiz an verschiedensten Stellen unterschiedlich weit gediehen. An Synchronisation und Geschwindigkeit müssen wir zulegen, denn niemand wartet auf uns. Für die Zukunftsfähigkeit sind wir in Sachen Innovation, gemäss dem Global-Innovation-Index, geradezu prädestiniert und könnten eine führende Rolle in der Digitalisierung einnehmen – aber die Realisierung sollten wir ernster und zügiger an die Hand nehmen. Die Schweiz, auch wenn es uns (noch) sehr gut geht, unterliegt dem Spannungsfeld der globalen Herausforderungen und dem internationalen Verdrängungskampf um die Wettbewerbsfähigkeit. Die Digitalsierung ist Grundlage für den künftigen Wohlstand in der Schweiz.
Setzt sich für eine smarte Schweiz ein: Roger Eric Gisi, Unternehmer und Gründer Schweizer Experten- und Marktplattformen zu Cloud-Computing, Security, CRM, Energie und Digitalisierung.
Claudia Gabler
Claudia Gabler ist Kommunikationsexpertin und Chief Happiness Officer bei FYNEST Agency. Die Kombination aus Kommunikation und Happiness Studies teilt sie leidenschaftlich gern in Workshops, Impulsvorträgen und auf LinkedIn Learning.