Im Zuge der voranschreitenden Digitalisierung stellt sich mehr und mehr die Frage, wie Unternehmen künftig mit Kunden interagieren werden. Ich habe mich mit einem Experten darüber unterhalten: Prof. Dr. Florian von Wangenheim ist Professor am Department of Management, Technology and Economics an der ETH Zürich und seine Hauptforschungsgebiete sind technologieintensives Dienstleistungsmanagement, Kundenmanagement und Online-Marketing.
Warum liegt deiner Meinung nach die Zukunft der erfolgreichen oder nachhaltigen Kundeninteraktion in der Automatisierung?
Um Kundeninteraktion möglichst individuell und auch im ausreichenden Masse zu ermöglichen, kommt man um Automatisierung nicht herum. Heutzutage stehen Unternehmen eine Vielzahl von Kundeninformationen zur Verfügung, mit denen sich die individuellen Bedürfnisse abbilden lassen. Dies ist mittlerweile sehr komplex und automatisierte Prozesse unterstützen dabei.
Die Automatisierung von Kundeninteraktionen war auch in der Vergangenheit immer dann besonders reizvoll, wenn sowohl Kunden als auch Unternehmen davon profitierten. Sie bietet sich insbesondere dann an, wenn eine automatisierte Interaktion für Kunden “more convenient” ist – sei es, weil sie nicht in der Schlange warten müssen, nicht an Öffnungszeiten gebunden sind oder weil sie eine gleichbleibende Servicequalität erleben können. Wer hebt heutzutage sein Geld noch am Bankschalter ab?
Das Ziel eines Dienstleistungsunternehmens kann aber nicht darin bestehen, möglichst alles zu automatisieren, sondern einen auf einzelne Kunden individuell abgestimmten Mix aus automatisierter und persönlicher Interaktion bereitzustellen.
Kannst du Beispiele von Anwendungen unterschiedlicher Technologien nennen, dank deren zukünftig die Kundeninteraktion komfortabler und praktischer gestaltet wird?
Stellen Sie sich vor, dass Sie ein neues Auto kaufen. Heutzutage ist es praktisch unmöglich, dass ein Händler Ihnen ein Auto in derjenigen Konfiguration zur Probefahrt bereitstellt, wie Sie es später vielleicht kaufen. Eine VR-Probefahrt würde dies allerdings realitätsnah darstellen können: Sie steigen in das nackte Basismodell ein und wählen sukzessive alle interessanten Ausstattungsoptionen an. Danach fahren Sie virtuell los und können erleben, wie das adaptive Fahrwerk die Kurvenlage verbessert oder welches Beschleunigungsvermögen der neue Elektroantrieb im direkten Vergleich
zum Basisbenziner ermöglicht.
Gleichzeitig werden AR- wie auch VR-Erlebnisse natürlich auch Teil der eigentlichen Kundenerfahrung sein, sei es im B2B (Vereinfachung von Serviceund Reparaturvorgängen, Schulungen etc.) oder B2C (BMW bietet schon jetzt eine holographische Unterstützung des Fahrers, gleich auf der Windschutzscheibe). Wir haben am Department of Management, Technology and Economics an der ETH Zürich ein Tool entwickelt, mit dem man Daten über eine Hololens „sichtbar“ machen kann. Dies soll die Lernerfahrung verbessern und die bisherigen Rückmeldungen sind sehr positiv. Grundsätzlich sind die Technologien daher in allen Teilen der Customer Journey einsetzbar.
Wann in etwa wird solch eine Customer Journey Realität?
Viele Technologien stehen in den Startlöchern, einiges wird bereits eingesetzt. In China verkaufen automatisierte Chats Produkte am Telefon, teilweise, ohne dass die Kunden merken, dass es sich um Chatbots handelt – hier kommen wir allerdings in rechtliche und moralische Grenzbereiche. AR und VR findet wie erwähnt bereits Einsatz, aber es braucht viel technische Vorarbeit. Über unser Health Lab waren wir an der Entwicklung eines virtuellen Fitnesscoachs beteiligt. Dieser macht Übungen vor und erkennt, wenn der Nutzer die Übung falsch ausführt – ebenfalls alles mit Hilfe einer AR-Brille. Aber der Programmierungsaufwand und die weitere Entwicklungsarbeit sind noch sehr langwierig und es ist noch unklar, ob es einen Markt gibt.
Welche Rolle spielt Künstliche Intelligenz rund um weitere Veränderungen der Interaktion von Unternehmen mit Kunden?
Insbesondere wenn es darum geht, Sprache in der Interaktion mit dem Kunden einzusetzen, spielt künstliche Intelligenz und spezifisch Deep Learning eine erhebliche Rolle. Hier wurden in den letzten Jahren grosse Fortschritte erreicht, die es erlauben,
Sprache sinnvoll zu verarbeiten und auszugeben. Das ist natürlich eine Grundvoraussetzung für eine sinnvolle Interaktion mit dem Kunden.
KI wird vermehrt für automatisierte Entscheidungsfindung oder als Entscheidungshilfe verwendet. Algorithmen des maschinellen Lernens können beispielsweise benutzt werden, um zu entscheiden, welche Informationen ein Kunde sieht, was für Offerten er oder sie erhält, oder um Verträge oder Käufe direkt abzuschliessen. Dabei geht es meist darum, das Angebot so personalisiert wie möglich zu gestalten. Profile können basierend auf Kundendaten (beispielsweise durch Sprach- oder Textanalyse) hergestellt werden, um die Angebote auf die Bedürfnisse des jeweiligen Kunden anzupassen, oder um das Verhalten von ähnlichen Kunden zu modellieren. Auch das ist (nach unserem Wissen) noch eher im Forschungsstadium.
Wenn wir uns den Interaktionsprozess heute im Vergleich mit diesen Zukunftsszenarien anschauen, welche Technologien finden sich bereits im Einsatz?
Ein wichtiger und derzeit stark wachsender Bereich sind sicherlich Chatbots. Unternehmen erkennen zunehmend, dass sich dadurch Prozesse effizienter gestalten lassen. Das kann das einfache Einholen von Informationen durch den Kunden beinhalten, aber auch komplexere Fälle, wie beispielsweise das Bearbeiten von Reklamationen im Versandhandel oder die Abwicklung von Schadensmeldungen bei Versicherungen.
Der Vorteil dabei ist, dass man einen Chatbot heute sehr einfach und unkompliziert „loslaufen“ lassen kann – da ist zunächst einmal noch keine KI gefragt. Der Chatbot gibt erst einmal ein paar vorprogrammierte Standardantworten und FAQs. Wenn der Chatbot dann im Einsatz ist, kann er schrittweise dazu lernen: welche Fragen
werden häufig gestellt, welcher Freitext wird dazu eingegeben, was möchten Nutzer noch wissen. Aber natürlich, wie oben angesprochen, folgende Aspekte: wie möchte ein bestimmter Nutzer angesprochen werden, welchen Kommunikationsstil pflegt er. So kann die Komplexität des Chatbots immer mehr zunehmen.
VieleUnternehmen sind aktuell in dem Stadium, dass sie mit „Basis Chatbots“ arbeiten, welche einfach Anfragen im Contact Center oder an andere Kontaktpunkten im Unternehmen abarbeiten sollen, im nächsten Schritt aber auch komplexere Anfragen und Beschwerden adressieren können.
Werden wir in Zukunft überwiegend mit Chatbots und per Conversational AI mit Unternehmen interagieren?
Die Technologie im Bereich Chatbots wird derzeit noch weiterentwickelt. Derzeit gängig sind sogenannte «retrival based» Chatbots. Dies sind Chatbots, die unter einer Reihe von Antwortmöglichkeiten, die am besten Passende auswählen. Das führt
natürlich dazu, dass der Chatbot nicht alle Eventualitäten bei der Kommunikation mit dem Kunden berücksichtigen kann und damit an seine Grenzen stösst. Häufig schaltet sich dann ein Mitarbeiter aus dem Service Center in die Kommunikation ein. Es wird jedoch derzeit an sogenannten «generativen» Chatbots gearbeitet, die keine vordefinierten Antwortmöglichkeiten benötigen. Ein beeindruckendes Beispiel aus diesem Bereich hat vor zwei Jahren Google aufgezeigt, deren Assistent eine telefonische Reservierung bei einem Restaurant durchgeführt hat und dabei auf unerwartete Wendungen im Gespräch reagieren konnte. Dem menschlichen Gesprächspartner war gar nicht bewusst, dass es sich um einen Chatbot handelte. Sobald sich die Technologie in diesen Bereich weiterentwickelt, gehe ich davon aus, dass Kundeninteraktionen mit Chatbots dominieren werden.
Im Gegensatz zu anderen Self Service Technologien verbinden Chatbots, mindestens theoretisch, die Vorteile automatisierter mit den Vorteilen persönlicher Interaktionen. In der Zukunft werden wir mit Chatbots wie mit einer echten Kundenberaterin reden können und Chatbots werden Antworten wie ein echter Berater geben. Ich nehme aber an, dass Chatbots auch langfristig nicht alle anderen Self Service Technologien verdrängen werden und ihre Nutzung von persönlichen Vorlieben der Kunden abhängig ist. Wenn Kunden mit einem einfachen Online Formular schneller an ihr Zielgelangen, werden sie wohl kaum auf einen Chatbot zurückgreifen, welcher sie in ein minutenlanges Gespräch verwickelt.
Für Unternehmen liegt die Kunst aber nicht darin, einfach alles an den Chatbot abzugeben. Wichtig ist, dass der Chatbot irgendwann „selbst erkennt“, wann er nicht mehr weiterkommt und ein Service Mitarbeiter zugeschaltet werden muss. Am Ende geht es nicht darum, den Kunden einfach „abzuservieren“, sondern eine gute Customer Experience zu bieten – und die wird eben durch den richtigen Mix abgebildet. Will der Kunde effizient eine Auskunft haben, kann das der Chatbot übernehmen. Braucht der Kunde Beratung und Betreuung und hat vielleicht auch ein Bedürfnis nach menschlicher Beratung und Interaktion, bleibt ein Kundenkontaktmitarbeiter gefragt.
Welche Rolle hat der Agent dann in diesem Bild der Customer Service Zukunft?
Menschliche Kontakte und Agenten werden vor allem im Hinblick auf personalisierte Kundeninteraktion weiter eine grosse Rolle spielen. Wenn wir hier an Interaktionen mit einem Chatbot denken, kann dieser zwar mehr und mehr “frei” antworten, ohne auf vordefinierte Pfade zurückgreifen zu müssen. Nichtsdestoweniger ist die Art der Interaktion beziehungsweise der Kundenbeziehung statisch und bis jetzt schwer personalisier- und individualisierbar. Gerade bei emotionsgeladenen (Kauf-)Entscheidungen möchte der Kunde oft ein menschliches Gegenüber haben, mit dem er “auf einer Wellenlänge” ist. Ähnlich verhält es sich mit kritischen oder sehr persönlichen Entscheidungen. Auch hier werden viele Kunden weiterhin einen menschlichen Agenten als Ansprechpartner präferieren, der auf die persönlichen Bedürfnisse situationsbezogen eingehen kann.
Zum Abschluss noch eine persönliche Frage: Wann sprichst du lieber mit einem Menschen und wann lieber mit einem Bot?
Aus meiner Sicht haben Bots schon ein paar Vorteile. In der Regel machen sie keine Pausen, sind jederzeit verfügbar, regen sich nicht über dumme Kunden auf und reagieren wenig emotional. In Service Situationen, in denen ich einfach eine kurze Auskunft oder Information benötige, finde ich das schon hilfreich. Ärgerlich wird es, wenn der Bot dann herunterbetet, was ihm einprogrammiert wurde, ich aber eine andere (komplexe) Frage gestellt habe. Allerdings habe ich, insbesondere (aber nicht nur) in den USA, auch schon häufig die Situation erlebt, dass Kundenkontaktmitarbeiter möglicherweise furchtbar freundlich sein können, allerdings auch nicht weiterhelfen, weil sie sich – genau wie der Bot – nur an das vorgegebene Service Script halten. In dem Fall kann man dann auch gleich mit dem Bot sprechen, auch wenn der vielleicht weniger nett ist.

Meike Tarabori
Im Januar 2019 übernahm Meike Tarabori die Position als Chefredakteurin des cmm360, das renommierte Schweizer Magazin für Customer Relations Stars und Service Champions. Als erfahrene Expertin für Marketing und Kommunikation mit Abschlüssen in Business, Marketing und deutscher Literatur hat sie wertvolle Erfahrungen unter anderem bei Unternehmen wie KUKA Robotics und zuletzt beim Cybathlon ETH Zürich gesammelt. Im Rahmen eines umfangreichen Rebranding-Projekts verlieh sie dem cmm360 seine aktuelle, moderne Ausrichtung. Seitdem hat sie nicht nur die Onlinepräsenz des Magazins erfolgreich etabliert, sondern kontinuierlich neue Formate wie die Podcasts «Nice To Meet You», «Meike's Raumzeit» und «ICT Talk» entwickelt. Darüber hinaus fungiert sie als Organisatorin des Schweizer Customer Relations Awards, eine Plattform, die innovative Projekte zur Gestaltung nachhaltiger Kundenbeziehungen und einzigartiger Kundeninteraktionen würdigt und auszeichnet.