Vom Patienten zum Kunden

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Das US-Gesundheitssystem ist komplex, fragmentiert und fordert innovative Lösungen für eine bessere Patientenreise. Andrew Chang von University Chicago Medicine erklärt, wie digitale Zugangspunkte, KI-gestützte Services und personalisierte Kommunikation helfen, Patientenerwartungen zu erfüllen und interne Prozesse zu optimieren. Ob B2B- oder B2C-Kommunikation, automatisierte Callcenter oder kulturell angepasste Services – der Wandel hin zu echter Kundenzentrierung ist ebenso technisch wie kulturell herausfordernd. Warum die enge Zusammenarbeit aller Abteilungen entscheidend ist und wie der Kulturwandel gelingen kann, verrät dieses Gespräch.

Obwohl das US-amerikanische Gesundheitssystem nicht unterschiedlicher als das Schweizer sein könnte – fragmentierter, marktorientierter, mit deutlich mehr Wettbewerb – stehen beide Länder vor ähnlichen Herausforderungen: Wie lassen sich medizinische Versorgung und Patientenerlebnis mit den Möglichkeiten von KI neu denken? Wie gelingt echte Kundenzentrierung in einem hochkomplexen, oft überlasteten System? Im Gespräch berichtet Andrew Chang, CMO an der University Chicago Medicine, dem akademischen Zentrum für innovative Medizin und Forschung, von seinen Erfahrungen mit der «digitalen Eingangstür», Terminbuchung im Klinikalltag und der Frage, wie man auch in solch einer Umgebung den Wandel vorantreibt.

Wie würden Sie das US-Gesundheitssystem beschreiben?

Andrew Chang: Das US-Gesundheitssystem ist sehr fragmentiert. Es gibt akademische medizinische Zentren wie das UChicago Medicine, gemeinnützige und privatwirtschaftliche Anbieter, oft im Besitz von Private Equity. Das heisst, in den USA sind private und staatliche Versicherungen parallel im Einsatz. Das führt zu einer sehr komplexen Patientenreise – von der Arztsuche bis zur Abrechnung.

Wie beeinflusst diese Komplexität die Erwartungen und das Verhalten der Patienten?

Andrew Chang: Die Erwartungen an Krankenhäuser sind traditionell sehr niedrig, weil das System so kompliziert ist. Viele akzeptieren lange Wartezeiten oder umständliche Prozesse, solange der medizinische Bedarf gedeckt wird. Doch das ändert sich: Jüngere Generationen erwarten digitale, schnelle und personalisierte Kommunikation, wie sie es aus anderen Lebensbereichen kennen. Sie möchten Termine per App buchen, per SMS erinnert werden und sofort wissen, ob ihre Versicherung akzeptiert wird. Das ist ein fundamentaler Wandel: Patienten werden zu Kunden, die echte Wahlmöglichkeiten erwarten.

Wie begegnen Sie diesem Wandel bei University Chicago Medicine?

Andrew Chang: Wir setzen auf eine Omnichannel-Strategie: Patienten sollen selbst entscheiden, wie sie mit uns kommunizieren, ob per Telefon, WhatsApp, SMS oder Online-Portal. Früher war unser Bereich geprägt durch den Begriff «digitale Eingangstür». Diese Eingangstüre bezeichnete im Gesundheitswesen den einzigen digitalen Zugangspunkt, über den Patienten sämtliche Services wie Terminbuchung, Kommunikation oder Dokumentenmanagement online abwickeln können: die Website.

An der University Chicago Medicine wird dieser Begriff endlich weitergedacht: Es gibt nicht nur einen Zugang, sondern viele. Wir wollen niemanden zwingen, einen bestimmten Kanal zu nutzen, sondern maximale Flexibilität bieten. Gleichzeitig investieren wir stark in Agentic AI, um eben solche Prozesse wie Terminbuchung, Versicherungsprüfung oder Informationsanfragen zu automatisieren und zu personalisieren.

Personalisierung ist ein zentrales Thema. Wie setzen Sie das konkret um?

Andrew Chang: Wir segmentieren unsere Patienten nach Versicherungstyp, medizinischem Bedarf und weiteren Kriterien. Ein Beispiel: Medicare-Patienten, meist über 65 Jahre alt, haben andere Anforderungen als jüngere, privat Versicherte. Sie stammen oft aus benachteiligten Bevölkerungsgruppen. Daher unterstützen wir sie gezielt bei der Versicherungsprüfung und bieten zusätzliche Beratung zu Leistungsansprüchen an. Internationale Patienten hingegen sollen unsere Website und Services in ihrer Muttersprache erleben, mit kulturell angepassten Informationen. Personalisierung ist im Gesundheitswesen besonders sensibel und wichtig, weil es um sehr persönliche Themen geht.

Im Marketing unterscheiden Sie zwischen B2B und B2C. Wie sieht das in der Praxis aus?

Andrew Chang: Beide Zielgruppen haben ganz unterschiedliche Bedürfnisse, Entscheidungswege und Kommunikationsstile. Im B2B-Bereich richten wir uns gezielt an Ärzte, Zuweiser und andere medizinische Fachkräfte, die Patienten an uns überweisen. Hier stehen Vertrauen, medizinische Exzellenz und Innovation im Mittelpunkt. Wir informieren diese Zielgruppe beispielsweise über neue Therapien, klinische Studien oder besondere Behandlungserfolge, sei es durch Fachvorträge, wissenschaftliche Publikationen, Webinare oder gezielte Mailings.

Ein Beispiel: Wir bieten als eine der ersten Kliniken eine innovative Krebstherapie, die CAR-T-Zelltherapie, an und kommunizieren dies gezielt an Onkologen und Fachärzte, die dann ihre Patienten entsprechend überweisen. In diesem Kontext geht es weniger um emotionale Ansprache, sondern um fundierte Informationen, Evidenz, Compliance und den fachlichen Austausch auf Augenhöhe. Im B2C-Bereich richten wir uns direkt an Patienten, etwa bei der Suche nach Spezialisten. Die Kommunikation ist emotionaler, niederschwelliger und auf die individuellen Bedürfnisse und Lebenslagen der Patienten zugeschnitten.

Beide Ansätze erfordern eigene Strategien, Inhalte und Kanäle. Wichtig ist, dass wir die jeweiligen Besonderheiten und Erwartungen der Zielgruppen verstehen und berücksichtigen. So schaffen wir es, sowohl im B2B als auch im B2C nachhaltige Beziehungen aufzubauen, Vertrauen zu stärken und die Patient Journey optimal zu begleiten.

Wie stellen Sie sicher, dass Innovationen mit den strengen Anforderungen an Governance und Datenschutz vereinbar bleiben?

Andrew Chang: Wir sind uns der sensiblen Natur von Patientendaten und den strengen gesetzlichen Vorgaben sehr bewusst. Deshalb holen wir für jeden einzelnen Anwendungsfall, bei dem Daten genutzt werden, die Zustimmung unserer Rechts- und Compliance-Abteilung ein. So stellen wir sicher, dass wir verantwortungsvoll und sicher handeln, Innovationen rechtssicher umsetzen und das Vertrauen unserer Patienten wahren. Manchmal müssen wir gemeinsam mit den Juristen Lösungen finden, um neue Technologien so einzusetzen, dass sie alle regulatorischen Anforderungen erfüllen. Diese enge Abstimmung ist für uns ein fester Bestandteil des Innovationsprozesses.

Können Sie noch weitere Beispiele nennen, die Sie ausserhalb vom Marketing bereits automatisiert haben?

Andrew Chang: Wir setzen KI bereits in mehreren Bereichen ein, um sowohl die Patientenerfahrung als auch die Arbeitsabläufe unserer Teams zu verbessern. Ein zentrales Beispiel ist die Automatisierung wiederkehrender Anrufe in unseren Call Centern. Allein in unserem grössten Call Center verzeichnen wir jährlich rund 2,4 Millionen Anrufe. Viele Anfragen betreffen jedoch immer die gleichen Themen wie Besuchszeiten, Adressen oder Parkmöglichkeiten, oder es handelt sich um Fehlanrufe, weil wir mit anderen Einrichtungen verwechselt werden. Mithilfe von KI-basierten Systemen beantworten wir diese Standardfragen automatisiert, sodass unsere Mitarbeitenden entlastet werden und sich auf komplexere Anliegen konzentrieren können. Das hat mehrere messbare Vorteile: Unsere Mitarbeitenden können echte Beziehungen zu Patienten aufbauen, anstatt ihre Zeit mit Routinefragen zu verbringen. Für die Patienten bedeutet das schnellere Auskünfte ohne lange Wartezeiten.

Wie gelingt die Zusammenarbeit zwischen den verschiedenen Abteilungen?

Andrew Chang: Die erfolgreiche Gestaltung von Customer Experience im Gesundheitswesen ist bei uns immer ein cross-funktionaler Prozess. Marketing, IT, Klinikbetrieb, Service und Call Center sowie Compliance arbeiten eng und nahezu täglich zusammen, um innovative Lösungen zu entwickeln und umzusetzen. Ein zentrales Instrument dafür ist unser «Center for Digital Transformation», welches wir als interdisziplinäres Steuerungsgremium gegründet haben. Hier kommen die wichtigsten Verantwortlichen aus verschiedenen Bereichen regelmässig zusammen, um gemeinsam an digitalen Projekten, Prozessinnovationen und der Einführung neuer Technologien zu arbeiten. Diese enge Zusammenarbeit hilft uns, klassische Silos aufzubrechen, unterschiedliche Perspektiven einzubinden und Veränderungen nachhaltig in der Organisation zu verankern. Nur so können wir sicherstellen, dass neue digitale Services nicht nur technisch funktionieren, sondern auch den klinischen Alltag, die Patientenerfahrung und die regulatorischen Anforderungen optimal berücksichtigen. Das macht den Kulturwandel und die digitale Transformation erst wirklich wirksam und erfolgreich.

Sie sprechen von einem Kulturwandel. Was bedeutet das konkret?

Andrew Chang: Die Einführung von KI und datengetriebenen Prozessen verändert die Arbeitsweise grundlegend. Viele Mitarbeitende sind skeptisch, weil sie Unsicherheiten spüren, etwa, wie sich ihre Aufgaben verändern. Es braucht viel Kommunikation, Schulung und das Aufzeigen von Erfolgen, um Vertrauen zu schaffen. Der Wandel betrifft nicht nur einzelne Teams, sondern das gesamte Unternehmen – und letztlich die gesamte Branche.

Was sind Ihre wichtigsten Learnings aus dem Transformationsprozess?

Andrew Chang: Erstens: Immer von den Use Cases ausgehen, um die richtigen Daten und Ressourcen zu identifizieren. Zweitens: Den Kulturwandel aktiv begleiten, denn Veränderung ist für viele eine Herausforderung. Und drittens: Die Zukunft des Marketings im Gesundheitswesen ist datengetrieben, persönlich und dialogisch. Ziel ist es, so relevant und hilfreich zu sein, dass Patienten und Ärzte von sich aus über uns sprechen – ganz ohne klassische Werbung.

Meike Tarabori, Chefredaktorin cmm360

Meike Tarabori

Im Januar 2019 übernahm Meike Tarabori die Position als Chefredakteurin des cmm360, das renommierte Schweizer Magazin für Customer Relations Stars und Service Champions. Als erfahrene Expertin für Marketing und Kommunikation mit Abschlüssen in Business, Marketing und deutscher Literatur hat sie wertvolle Erfahrungen unter anderem bei Unternehmen wie KUKA Robotics und zuletzt beim Cybathlon ETH Zürich gesammelt. Im Rahmen eines umfangreichen Rebranding-Projekts verlieh sie dem cmm360 seine aktuelle, moderne Ausrichtung. Seitdem hat sie nicht nur die Onlinepräsenz des Magazins erfolgreich etabliert, sondern kontinuierlich neue Formate wie die Podcasts «Nice To Meet You», «Meike's Raumzeit» und «ICT Talk» entwickelt. Darüber hinaus fungiert sie als Organisatorin des Schweizer Customer Relations Awards, eine Plattform, die innovative Projekte zur Gestaltung nachhaltiger Kundenbeziehungen und einzigartiger Kundeninteraktionen würdigt und auszeichnet.

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