Die Landwirtschaft steht vor ähnlichen Herausforderungen wie viele Customer-Facing Industrien: fragmentierte Daten, komplexe Ökosysteme und die Notwendigkeit, Nutzer in kritischen Momenten mit relevanten Insights zu unterstützen. Mit CropWise baut Syngenta eine globale Plattform, die KI, Agronomie und Customer Experience verbindet. Im Gespräch erläutert Marco Issenmann, Head Global Digital Marketing bei Syngenta, wie aus Daten echte Entscheidungen werden, und wie eine der grössten digitalen Transformationen gelingt.
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Im Gespräch mit Marco Issenmann, Head Global Digital Marketing bei Syngenta, wie aus Daten echte Entscheidungen werden, und wie eine der grössten digitalen Transformationen gelingt.
Du beschäftigst dich seit fast zehn Jahren mit der digitalen Agenda von Syngenta. Können Du dich und Deine Rolle kurz vorstellen?
Marco Issenmann: Ich habe in den vergangenen Jahren verschiedene digitale Initiativen bei Syngenta geleitet – von der globalen Digitalstrategie bis zur Entwicklung der CropWise-Plattform. CropWise ist unser digitales Ökosystem, das verschiedene Anwendungen unter einem Dach vereint, vergleichbar mit einer Office-Suite. Heute nutzen Landwirte und Agrarunternehmen weltweit diese Tools auf insgesamt rund 70 bis 75 Millionen Hektar, etwa 18-mal die Fläche der Schweiz. Ziel ist es, Landwirten bessere, schnellere und nachhaltigere Entscheidungen zu ermöglichen, unterstützt durch Daten, Technologie und starke Teams weltweit.
Warum spielen digitale Technologien und KI gerade jetzt eine so entscheidende Rolle in der Landwirtschaft?
Weil wir uns an einem Wendepunkt befinden. Die Landwirtschaft steht vor massiven Herausforderungen: Klimawandel, Bodenqualität, volatile Märkte und eine wachsende Weltbevölkerung. Mit herkömmlichen Methoden können wir diese Aufgaben nicht mehr bewältigen. Wir befinden uns am Beginn der vierten Agrarrevolution und Technologie ist der Katalysator. KI und Präzisionslandwirtschaft ermöglichen zum Beispiel, Pflanzenschutzmittel nur dort auszubringen, wo sie wirklich nötig sind. Ein grosser Betrieb in Brasilien hat seine Kosten dadurch um rund 20 Prozent reduziert. Diese Art von Effizienz und Nachhaltigkeit lässt sich ohne digitale Lösungen nicht erreichen.
CropWise wurde 2020 während der Pandemie lanciert. Wie ist die Plattform entstanden?
Vor CropWise existierten weltweit viele einzelne Lösungen. Gute, aber isolierte Innovationen. Unterschiedliche Technologien, Datensysteme und lokale Anforderungen machten es schwierig, sie global zu skalieren. Deshalb haben wir uns entschieden, eine gemeinsame Plattform zu schaffen. Was damals mit fünf Entwicklern begann, ist heute ein globales Team von 700 bis 800 digitalen Expertinnen und Experten mit Hubs in Brasilien, den USA, Europa, der Ukraine, Indien und weiteren Regionen. Diese Struktur ermöglicht nicht nur rund um die Uhr Support, sondern bringt auch regionale Stärken zusammen.
Wie gelingt es, Features zu entwickeln, die global ausrollbar und gleichzeitig lokal relevant sind?
Die wichtigste Regel lautet: Der Endnutzer entscheidet. Wir beziehen Landwirte sehr früh in die Entwicklung ein, sei es bspw. durch Interviews, Tests oder Prototyping. Nach dem Launch analysieren wir sehr genau, wie Features genutzt werden. Das hilft uns zu verstehen, was wirklich Mehrwert schafft. Gleichzeitig ist Landwirtschaft extrem lokal. Böden, Klimata, Kulturen und Regulierungen unterscheiden sich stark. Deshalb entwickeln wir globale Kerninfrastruktur, aber spezifische Module lokal. Ein schönes Beispiel ist die Drohnen-Funktion, über die Landwirte lokale Dienstleister für Sprüharbeiten beauftragen können, eine Art regionaler Marktplatz innerhalb der Plattform.
CropWise verarbeitet grosse Datenmengen. Wie stellt Ihr sicher, dass die Anwendungen auch in Regionen mit schlechter Netzabdeckung funktionieren?
Wir nutzen sehr unterschiedliche Datenquellen wie Satellitenbilder, Bodendaten, Wetterdaten, On-Farm-Daten und eigene agronomische Daten. Da viele Anbauregionen nicht gut vernetzt sind, setzen wir stark auf Offline-Funktionalitäten. Daten werden zwischengespeichert, in kleinen Paketen übertragen und im Hintergrund synchronisiert. Moderne Webtechnologien sorgen zudem dafür, dass die Anwendungen auch bei minimaler Verbindung stabil laufen. Langfristig wird die Konnektivität global zunehmen, aber bis dahin müssen Lösungen funktionieren – egal, ob auf dem Feld Netz verfügbar ist oder nicht.
Du hast CropWise mal einen „digitalen Agronomisten in der Hosentasche“ genannt. Was meinst Du damit?
Was ich damit meine, lässt sich gut an einem Beispiel aufzeigen, nämlich anhand der Funktion CropDoctor. Landwirte können ein Foto einer befallenen Pflanze machen und bekommen in Sekunden eine Diagnose, Hintergrundinformationen und konkrete Handlungsempfehlungen. Diese Funktion ersetzt nicht den Agronomen, aber sie macht Expertise in Regionen verfügbar, in denen es sonst keinen Zugang dazu gibt. Besonders für Kleinbauern ist das ein enormer Fortschritt.
Zusätzlich ermöglichen wir Sprachsteuerung in lokalen Sprachen. Das hilft Menschen mit geringer Lesekompetenz oder in Regionen, in denen kaum jemand Englisch spricht. Diese Kombination aus KI, Kamera und Voice ist ein echter Game Changer.
Viele kleine Betriebe haben zwar Smartphones, aber wenig digitale Erfahrung. Wie stellt Ihr sicher, dass sie nicht abgehängt werden?
Das ist ein zentraler Punkt. Kleinbauern machen weltweit die Mehrheit der Landwirte aus – rund 500 Millionen. Und entgegen vieler Annahmen sind sie digital durchaus gut vernetzt. Bei einem Besuch in Vietnam zeigte sich, dass viele zwar einfache Telefone fürplatta den Feldeinsatz nutzen, aber zu Hause Smartphones für Messaging und Social Media. Entscheidend ist, Anwendungen so zu gestalten, dass sie intuitiv, klar und wertstiftend sind.
Ausserdem arbeiten wir mit lokalen Teams, Händlern und Beratern, die Landwirte unterstützen. Gleichzeitig müssen Apps so einfach sein, dass sie auch ohne Schulung funktionieren – so wie jede App, die wir privat nach dem Download sofort verstehen wollen.
Landwirte treffen Entscheidungen mit grossem wirtschaftlichen Risiko. Wie stellt Ihr Transparenz und Datensicherheit sicher?
Vertrauen ist absolut zentral. Wir geben Kundendaten niemals ohne Zustimmung weiter und arbeiten mit höchsten Sicherheitsstandards wie SOC 2. Zudem müssen wir in jedem Land unterschiedliche Regulierungen beachten – von Datenresidenzpflichten bis zur Meldung agronomischer Anwendungen. Das erfordert flexible Backend-Architekturen und klare Trennungen zwischen Ländern und Systemen. Landwirte müssen sicher sein, dass ihre Daten geschützt sind, und sie müssen verstehen, wofür wir sie nutzen. Ohne Vertrauen funktioniert keine Plattform in der Landwirtschaft.
Wie hat sich die digitale Transformation auf die Organisation selbst ausgewirkt? Viele Unternehmen kämpfen hier mit kulturellen Spannungsfeldern.
Das ist bei uns nicht anders gewesen. Syngenta ist ein Unternehmen, das physische Produkte entwickelt, die jahrelange Forschungs- und Zulassungszyklen haben. Digitale Produkte ticken völlig anders. Sie müssen schnell getestet, ausgerollt, verbessert oder auch verworfen werden. Wir haben deshalb bewusst zwei Geschwindigkeiten zugelassen und Teams mit digitaler Expertise eigene Freiräume gegeben. Gleichzeitig braucht es klare Schnittstellen zur bestehenden Organisation.
Die grössten Learnings: Transformation braucht Zeit, muss in Etappen erfolgen und verlangt, dass man akzeptiert, dass digitale Lösungen keine „stabile Phase“ mehr haben. Mit KI sprechen wir heute nicht mehr nur über Agilität, sondern über Hyper-Agilität. Systeme müssen permanent anpassbar sein.
Zum Abschluss: Wie wird sich CropWise in den kommenden Jahren weiterentwickeln?
Wir sehen drei grosse Entwicklungsfelder. Erstens bleibt der Landwirt das Zentrum aller Entwicklungen. Features müssen reale Probleme lösen, von Bodengesundheit bis zu Biodiversität. Zweitens wird KI zum globalen Equalizer. Technologien, die heute grossen Betrieben vorbehalten sind, werden für Millionen Kleinbauern zugänglich. Drittens bauen wir das Ökosystem deutlich aus. Mit der CropWise Open Platform öffnen wir uns für externe Entwickler und Partner entlang der gesamten Wertschöpfungskette. Ausserdem experimentieren wir mit neuen Technologien, von Robotdogs bis hin zu erweiterten Kameralösungen. Alles mit dem Ziel, Landwirten weltweit bessere Entscheidungen zu ermöglichen.
Meike Tarabori
Im Januar 2019 übernahm Meike Tarabori die Position als Chefredakteurin des cmm360, das renommierte Schweizer Magazin für Customer Relations Stars und Service Champions. Als erfahrene Expertin für Marketing und Kommunikation mit Abschlüssen in Business, Marketing und deutscher Literatur hat sie wertvolle Erfahrungen unter anderem bei Unternehmen wie KUKA Robotics und zuletzt beim Cybathlon ETH Zürich gesammelt. Im Rahmen eines umfangreichen Rebranding-Projekts verlieh sie dem cmm360 seine aktuelle, moderne Ausrichtung. Seitdem hat sie nicht nur die Onlinepräsenz des Magazins erfolgreich etabliert, sondern kontinuierlich neue Formate wie die Podcasts «Nice To Meet You», «Meike's Raumzeit» und «ICT Talk» entwickelt. Darüber hinaus fungiert sie als Organisatorin des Schweizer Customer Relations Awards, eine Plattform, die innovative Projekte zur Gestaltung nachhaltiger Kundenbeziehungen und einzigartiger Kundeninteraktionen würdigt und auszeichnet.
