Chinas Onlinehandel: Was Europa lernen kann

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Zwischen Great Firewall und globalem Einfluss | Björn Ognibeni, DigitalexperteZwischen Great Firewall und globalem Einfluss | Björn Ognibeni, Digitalexperte
Zwischen Great Firewall und globalem Einfluss | Björn Ognibeni, Digitalexperte

Chinas Onlinehandel zeigt, wie rasant Innovationen entstehen können, wenn Geschwindigkeit, Plattform-Ökosysteme und echter Kundendialog zusammenspielen. Während europäische Unternehmen oft in Silos und langen Planungsphasen verharren, setzen chinesische Firmen auf Flexibilität, direkte Nutzerinteraktion und Entertainment-Formate wie Live Commerce. Kulturelle Unterschiede sind dabei weniger Hindernis als Ausrede. Entscheidend ist, das zugrunde liegende Mindset zu verstehen und klug zu adaptieren. Wer alte Muster verlässt und den direkten Austausch mit Kund:innen sucht, kann neue Chancen erschliessen und die eigene Innovationskraft stärken.

Podcast - Bild: iStock-1453753343

Was macht den chinesischen Onlinehandel so besonders und was können europäische Unternehmen wirklich davon lernen? Im Gespräch erklärt Digitalexperte Björn Ognibeni, warum die spannendsten Impulse inzwischen aus China kommen, was Geschwindigkeit und Plattform-Ökosysteme mit Erfolg zu tun haben und weshalb es vor allem auf ein neues Mindset und echten Kundendialog ankommt.

Bevor wir uns dem eigentlichen Thema des Interviews widmen, interessiert mich, wie Du zu dem Fokus auf China gekommen bist?

Björn Ognibeni: Ich habe mein Augenmerk immer dorthin gerichtet, wo die spannendsten Innovationen entstehen. Früher war das im Silicon Valley, aber irgendwann blieb dort vieles aus. Als ich 2018 zum ersten Mal in China war, stellte ich schnell fest, dass wirklich neue und zukunftsweisende Ideen von dort kommen. Leider wird das im Westen viel zu wenig wahrgenommen. Das war auch der Auslöser für meine Initiative «ChinaBriefs.io», mit der ich Unternehmen helfe, den Blick nach Osten zu richten und besser zu verstehen, was in China bereits möglich ist.

Was macht aus Deiner Sicht den Onlinehandel in China so einzigartig?

Das Spannende an China ist, dass es das einzige Land ist, das nicht dem Silicon-Valley-Modell folgt. Die dortigen Tech-Riesen wie Google, Meta oder Amazon gibt es dank der «Great Firewall» in China nicht. Dies hat dazu geführt, dass sich in China ganz eigene digitale Ökosysteme gebildet haben. Innovationen entstanden also quasi im lokalen «Testlabor» mit dem Ergebnis, dass aus den Experimenten milliardenschwere Unternehmen wurden. Die letzten Jahre tauchten dann immer öfter Player wie Shein, Temu oder auch TikTok bei uns im Westen auf, die auf zu Hause gemachte Erfahrungen aufbauen können und so nun Druck auf lokale Anbieter hier ausüben.

Du sprichst also im Grunde von Geschwindigkeit und Flexibilität als Erfolgsfaktoren. Kannst Du das konkretisieren?

Gerne! In China herrscht ein Mindset, das darauf ausgerichtet ist, nicht lange zu zögern, sondern Innovationen direkt auszuprobieren und rasch umzusetzen. Ein anschauliches Beispiel ist Xiaomi: Die haben in weniger als drei Jahren ein komplett neues Auto entwickelt, die Produktion hochgezogen und dann in kürzester Zeit Hunderttausende davon verkauft, während wir im Westen noch in langen Planungsphasen feststecken. Diese Schnelligkeit ist kein Zufall, sondern tief in der Unternehmenskultur von Firmen wie Xiaomi verankert. Gleichzeitig sind chinesische Firmen sehr anpassungsfähig. Wenn ein Plan nicht funktioniert, wird dieser halt geändert, ohne endloses Festhalten an alten Strategien. Dank dieses lösungsorientierten Vorgehens entsteht eine Dynamik, die wir hier oft vermissen und aus der wir viel lernen können.

Welche Rolle spielen Live Commerce und sogenannte Shop-Attainment-Konzepte im chinesischen Onlinehandel? Und warum funktioniert das bei uns bislang nicht so gut?

Live Commerce heißt, dass Produkte im Livestream verkauft werden, ähnlich wie Teleshopping, aber weit moderner und direkter. In China ist das ein riesiger Markt, oft kombiniert mit «Shopataiment». Darunter ist zu verstehen, dass Menschen Shops zum Zeitvertreib besuchen und nicht nur, um konkret etwas zu suchen. Bei uns dagegen ist E-Commerce immer noch weitgehend «suchgetrieben».

Heißt: Kund:innen wissen, was sie suchen, und möchten das Produkt so schnell wie möglich kaufen. Das erklärt auch, warum Live Commerce bei uns in Europa bislang weniger erfolgreich ist. Es fehlt dieses Mindset, dass Shopping Unterhaltung sein kann. Erst mit Creators und Plattformen wie TikTok ändert sich das langsam auch hier.

Es fällt auf, dass viele Unternehmen bei uns in festen Strukturen und Silos denken. Was können wir im Hinblick auf Zusammenarbeit und Plattform-Ökonomie von China lernen?

Das ist ein spannender Punkt! Das strukturierte Arbeiten in abgegrenzten Abteilungen sowie das Denken in Kampagnen prägen viele europäische Unternehmen bis heute. In China hingegen steht die Zusammenarbeit innerhalb von Unternehmen, Plattformen und auch Ökosystemen deutlich stärker im Mittelpunkt. Dort kooperieren verschiedene Akteure, um dem Nutzer ein durchgängig vernetztes und nahtloses Erlebnis zu bieten. Die Bereitschaft, Silos aufzubrechen und Zusammenarbeit als strategischen Vorteil zu begreifen, ist eine zentrale Lektion, die wir uns von chinesischen Plattformmodellen abschauen sollten.

Doch auch innerhalb eines Unternehmens könnten wir viel erreichen, wenn Marketing, Vertrieb und Kundenservice stärker zusammenarbeiten, bevor wir überhaupt an Kooperationen mit anderen Unternehmen denken.

Oft wird angeführt, dass kulturelle Unterschiede verhindern, chinesische Trends zu übernehmen. Stimmst Du dem zu?

Dieses Argument höre ich tatsächlich häufig. Natürlich spielen kulturelle Unterschiede eine Rolle, aber viel öfter wird das einfach als bequeme Ausrede genutzt, warum neue Ideen gar nicht erst angegangen werden. Meine Erfahrung zeigt: Kultur ist überall unterschiedlich! Auch innerhalb von Europa sind Dänemark, die Schweiz oder Deutschland nicht «eins zu eins» zu vergleichen. Trotzdem würden wir nie sagen: «Was in Dänemark funktioniert, kann bei unserer Kultur auf keinen Fall passen.»

Das gleiche gilt ganz ähnlich für Ansätze aus China. Es geht nicht darum, Modelle stumpf aus China zu kopieren. Das wäre tatsächlich selten erfolgreich und wenig zielführend. Viel wichtiger ist es, zu verstehen, warum in China bestimmte Dinge funktionieren und was das Mindset dahinter ist. Wie sind die Geschäftsmodelle und das Nutzerverhalten in den jeweiligen kulturellen Kontext eingebettet? Wenn ich diesen Kontext begreife, kann ich überlegen, wie sich so ein Ansatz sinnvoll an die eigenen Rahmenbedingungen anpassen lässt. Daraus kann dann auch hierzulande etwas sehr Erfolgreiches entstehen. Am Ende geht es darum, offen für Neues zu sein, und Bestehendes intelligent weiterzuentwickeln.

Wie sieht es mit Kundenzentrierung und Dialog aus? Was können europäische Unternehmen diesbezüglich lernen?

Bei uns in Europa reden zwar alle davon, wie wichtig Kundenzentrierung ist, in der Praxis sieht das aber häufig ganz anders aus. Viele Unternehmen haben nach außen hin den Anspruch, den Kunden ins Zentrum zu stellen, aber im Alltag fehlt schon allein der direkte Kontakt. Dialoge mit Kunden werden vielmehr als Kostenfaktor eingestuft und jede Interaktion im Servicecenter soll so kurz wie möglich gehalten werden. Dazu kommt, dass Kommunikation häufig anonym und einseitig ist, von «no-reply»-Newslettern bis hin zu fehlenden Rückkanälen für Kundenfeedback.

In China läuft das komplett anders. Dort ist echter Dialog mit den Usern und Userinnen ein wesentlicher Bestandteil digitaler Geschäftsmodelle, gerade auch beim Live Commerce. Hier wird der Austausch mit Konsument:innen als Chance verstanden, Beziehungen aufzubauen und Produkte besser zu machen, und nicht als Belastung. Durch Formate wie Livestream-Shopping können Nutzer:innen Fragen stellen, Feedback geben und direkt mit dem Host oder sogar mit der Produktentwicklung sprechen.

Ein faszinierendes Beispiel ist das «Zero Distance to Customer»-Prinzip, welches z. B. bei dem chinesischen Unternehmen Haier gelebt wird. Der Mitarbeitende, der ein Produkt entwickelt, soll möglichst direkt mit Feedback von Nutzerinnen und Nutzern arbeiten können, damit Wünsche, Probleme und Ideen ohne lange Wege und Zeitverlust einfließen. Bei uns hingegen sind Produktentwicklung und Kundendialog meist strikt getrennt. Das verhindert echtes Verständnis und innovative Lösungen. Genau dieses Umdenken hin zu weniger Distanz und mehr direkter Interaktion sollten wir uns hier abschauen.

Und wie steht’s mit dem Thema Datenschutz? Sind chinesische Konsumenten wirklich so viel nachlässiger?

Viele unterschätzen, wie streng das Datenschutzrecht in China inzwischen auf Unternehmensseite ist. Auf Regierungsseite ist das natürlich etwas anderes. Doch auch in China stoßen datengetriebene Geschäftsmodelle nicht mehr auf unreflektierte Akzeptanz. Aber wir sollten aufhören, Datenschutz als K.-o.-Argument gegen Innovation zu missbrauchen. Vieles, was Shein zum Beispiel so effizient macht, läuft über Produktions- und Prozessdaten, nicht über persönliche Kundendaten.

Dein Fazit: Was ist der wichtigste Hebel für Unternehmen, um von China zu lernen?

Nicht jede neue Entwicklung einfach kopieren, sondern versuchen, das Mindset und das System dahinter zu verstehen und dies dann für unsere Kultur und unsere Märkte zu adaptieren. Die entscheidende Frage darf nicht lauten, ob etwas geht, sondern wie wir es umsetzen können. Wer bereit ist, Perspektiven zu wechseln, wird die größten Chancen nutzen und dabei oft sogar wieder Spaß an echter Innovation gewinnen.

Meike Tarabori, Chefredaktorin cmm360

Meike Tarabori

Im Januar 2019 übernahm Meike Tarabori die Position als Chefredakteurin des cmm360, das renommierte Schweizer Magazin für Customer Relations Stars und Service Champions. Als erfahrene Expertin für Marketing und Kommunikation mit Abschlüssen in Business, Marketing und deutscher Literatur hat sie wertvolle Erfahrungen unter anderem bei Unternehmen wie KUKA Robotics und zuletzt beim Cybathlon ETH Zürich gesammelt. Im Rahmen eines umfangreichen Rebranding-Projekts verlieh sie dem cmm360 seine aktuelle, moderne Ausrichtung. Seitdem hat sie nicht nur die Onlinepräsenz des Magazins erfolgreich etabliert, sondern kontinuierlich neue Formate wie die Podcasts «Nice To Meet You», «Meike's Raumzeit» und «ICT Talk» entwickelt. Darüber hinaus fungiert sie als Organisatorin des Schweizer Customer Relations Awards, eine Plattform, die innovative Projekte zur Gestaltung nachhaltiger Kundenbeziehungen und einzigartiger Kundeninteraktionen würdigt und auszeichnet.

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